- Mystik und Ordenswesen
- Mystik und OrdenswesenSeit den Tagen des Propheten hatte sich das islamische Reich rasch ausgebreitet. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts reichte es von Andalusien bis Transoxanien und bis zum heutigen Pakistan. Daraus resultierte eine zunehmende Verweltlichung, der Fromme durch Kritik an weltlicher Macht und Konzentration auf die Mahnungen des Korans und auf das Beispiel des Propheten entgegenzuwirken suchten. Weltablehnende Asketen traten in Irak, in Syrien und in Iran auf; sie hatten auch Kontakte zu christlichen Eremiten. Nach ihren Kutten aus Wolle, »suf«, wurden sie als Sufi bezeichnet. Durch eine Frau, Rabia- sie starb im Jahr 901 - wurde das Ideal der reinen Gottesliebe eingeführt, das zum Zentralthema und Ziel der Mystiker wurde. Ständige Meditation des Korans, Gottgedenken, Seelenerforschung, Kampf gegen die Triebseele sowie Konzentration auf die absolute Einheit Gottes bestimmten das Leben der frühen Sufis, um die sich einige wenige Jünger scharten. Sie fanden hin und wieder Ablenkung durch Musik und gaben sich gelegentlich dem Tanz hin, der später in einigen Orden institutionalisiert wurde. Die erste Phase des Sufismus schließt gewissermaßen mit der Hinrichtung desal-Halladj ab. Dieser Bagdader Mystiker soll »Ich bin die absolute Wahrheit«, das heißt »Gott«, behauptet haben und wurde daher als Häretiker angeklagt und 922 hingerichtet; seine Verse sprechen von der Vereinigung Gottes mit der menschlichen Seele, die der Vermischung von Wein und Wasser, Moschus und Ambra ähnelt; er ersehnte seinen Tod, damit die Trennung zwischen dem Geschaffenen und dem Ungeschaffenen endlich aufhöre. Al-Halladj, der auch politisch tätig war, ist bis heute eine Schlüsselfigur im Sufismus.Das Ziel des Mystikers ist »Fana«, das »Entwerden«, »zu werden, wie er war, bevor er war«; über zahlreiche, später meist sieben Stufen führt der Weg zu Gottesliebe und/oder Erkenntnis. Eine immer wichtigere Rolle erhielt die Bindung des Schülers an einen Meister, den Scheich - im Persischen wird der Meister Pir genannt -, der ihn in seiner Entwicklung überwacht und dem er zu absolutem Gehorsam verpflichtet ist. Er gibt ihm eine Gebetsformel und sendet ihn in eine vierzigtägige Klausur zur Meditation. Die legalistische und dogmatische Verengung des Islam führte zu dem Wunsch nach mehr emotioneller Frömmigkeit; so entstanden seit Mitte des 12. Jahrhunderts Bruderschaften, denen sich zunehmend Laien, Männer und Frauen aus allen Bevölkerungsschichten anschlossen. Diese Bruderschaften trugen weitgehend zur Verbreitung des Islam in Asien und Afrika bei. Ihr Zentrum war das Ribat, wo der Meister residierte. Weder der Meister noch seine Jünger, die Derwische oder Fakire - das heißt »Arme« - waren zum Zölibat verpflichtet. Frauenklöster wurden von einer Meisterin geleitet. Die Menschen suchten im Kloster Unterweisung, Trost und Hilfe. Am Jahrestag des Todes des Ordensgründers wird das »Hochzeitsfest«, die Vereinigung der Seele des Meisters mit Gott, gefeiert. Hunderttausende von Pilgern strömen dann zu den großen Heiligtümern.Der volkstümliche Islam, der sich unter dem Einfluss der Sufis entwickelte, wird von der Orthodoxie als unislamisch angesehen; selbst Mystiker haben seit Anfang des 11. Jahrhunderts die Auswüchse des Heiligenkultes oft kritisiert, denn der Islam schließt jedwede Mittlerrolle eines Menschen zu Gott aus: wie es kein Priestertum gibt, so soll es auch keine »Heiligen« geben. Dennoch spielt die Verehrung lokaler oder regionaler Heiliger bis heute eine wichtige Rolle. Doch ist der Heilige nicht ein kanonisierter Mensch, sondern ein »Gottesfreund«, ein »Wali«, »der unter besonderem Schutz Gottes steht« und daher mit der Fähigkeit, Wunder zu wirken, begnadet ist: Viele Gläubige erfuhren, dass der Meister imstande war, sie durch seine Gnadenmacht, sein »Baraka«, in Not oder Gefahr zu trösten, Wünsche zu erfüllen, an verschiedenen Orten gleichzeitig anwesend zu sein oder zu heilen. Die Gebetsformeln, die er seinen Anhängern gibt, sollen ihnen als Schutz und geistige Nahrung dienen. Bereits um 900 wurden Theorien über die Hierarchie der Gottesfreunde entwickelt, deren höchster der »Pol« oder die »Achse«, ist. In späterer Zeit wurden viele Seelenführer von ihren Anhängern als »Pol« angesehen, oder sie schrieben sich selbst diese Stellung zu, wie denn zahlreiche Mystiker nicht gerade bescheiden in ihren Ansprüchen waren. Wie man im Volk glaubt, sind sie es, deren verborgenes Wirken die Welt im Gange hält; und wo ihr Blick nicht hinfällt, entstehe Unheil.Nicht nur der Heiligenkult entwickelte sich als Reaktion auf die legalistisch-dogmatische Verfestigung des Islam. Im 11. Jahrhundert erklärte al-Ghasali, wie er, der berühmte Professor der Philosophie und Theologie, den haarspalterischen Tendenzen im offiziellen Islam überdrüssig, sich der Mystik zugewandt habe. Bald danach setzten neue Entwicklungen ein. Al-Suhrawardi, der Meister der Erleuchtung, schuf auf der Basis hellenistisch-gnostischer Ideen seine Philosophie der Erleuchtung, die mit ihrer Lehre von der Rückkehr der Seele aus dem »westlichen Exil« ins Morgenland Gedanken christlicher Mystiker vorausnahm; er wurde 1191 in Aleppo hingerichtet. Dann trat Ibn al-Arabi auf, der dem eher philosopisch-theosophischen Weg der westlichen Denker folgte und nach langen Wanderungen 1240 in Damaskus starb. Seine »Mekkanischen Eröffnungen«, ein riesiges, von einer Vision beim Umwandeln der Kaaba in Mekka inspiriertes Werk, wurde zu einem der einflussreichsten Bücher im Sufismus. Seine Gedanken werden jedoch bis heute von der Orthodoxie als gefährlich abgelehnt; man hat ihn des Pantheismus bezichtigt; doch wollte er nur die islamische Lehre. »Es gibt nichts wahrhaft Existierendes als Gott« ausführen. Die Schöpfung geschah Ibn al-Arabi zufolge durch das plötzliche Herausströmen der göttlichen Namen ins Nichts, das dadurch - in Form unserer Welt - kontingente Existenz erhielt. Die Welt ist also ein Spiegel der Gottesnamen und existiert nur so lange, wie sie sich Gott zuwendet. Gott aber wird von jedem Menschen auf eigene Art erlebt. Die komplizierte Sprache Ibn al-Arabis und seine oft an kabbalistische Methoden erinnernde Argumentation haben zu den verschiedensten Auslegungen seines Werkes geführt; oft endeten diese einfach in der Formel »Alles ist Er«, die sich in Tausenden von mystischen Versen in der Folgezeit findet.Die Zeit Ibn al-Arabis, das 13. Jahrhundert, ist die wichtigste Periode für die Mystik - im Islam wie im christlichen Europa. Die islamische Welt erlebte große politische Umbrüche, zu denen die massive Ausdehnung der Mongolen zur beherrschenden Macht in ganz Inner-, Ost- und Vorderasien sowie in Osteuropa gehörte; dem stand eine nie erreichte Anzahl von Mystikern gegenüber. In Europa wirkten etwa Mechthild und etwas später Meister Eckhart, in der islamischen Welt lebten große mystische Dichter, wie der Ägypter Ibn al-Farid und am Ende des 13. Jahrhunderts al-Busiri, dessen Prophetenloblied Zeugnis von der tiefen Verehrung Mohammeds gibt. Zahlreiche Orden wurden gegründet, so die Schadhilijja mit ihrer fein geschliffenen Literatur; die Kubrawijja in Zentralasien bot eine faszinierende Einführung in die farbigen Lichtvisionen der Sufis. Die mystische Poesie im persischen Raum erreichte ihre Höhepunkte mit Attar und Djalal od-Din Rumi, der, aus Afghanistan kommend, bis 1273 im anatolischen Konya wirkte. Sein »Mesnewi«, ein Gedicht in rund 25 000 Doppelversen - einer Form, in der sich schon die Dichter Sanai von Ghazni und Attar ausgezeichnet hatten, handelt von der Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der Seele mit Gott; es wird von Sufis als »Koran in persischer Zunge« bezeichnet; seine lyrischen Gedichte sind an ekstatischer Glut unübertroffen, bald an Mechthild erinnernd, nehmen sie in theoretischen Aussagen manchmal Meister Eckhart mit seiner Lehre von der Geburt Jesu in der Seele voraus. Der Orden der Tanzenden Derwische, der Mewlewije, wurde von Rumis Sohn institutionalisiert. Er hat die Grenzen des Osmanischen Reiches nie überschritten, ebenso wie die etwas früher entstandene musikliebende Tschischtijja nie über Indien hinausreichte.Seit Ende des 12. Jahrhunderts hatten sich Ordenszentren auch in Indien gebildet. Sie sind bis heute populär, und ihre Leiter haben oft eine wichtige politische Rolle gespielt. Im indischen Raum kam es auch zu Berührungen mit der hinduistischen Mystik, die den Weg der inbrünstigen Hingabe (Bhakti) an einen Gott (meist Krishna) lehrt, und die poetischen Bilder beider Religionen vermischten sich hin und wieder. Wie in Europa waren es auch im Islam die Mystiker, die die Volkssprachen anstelle der traditionellen liturgischen Sprachen verwendeten. Wie Mechthild und Eckhart deutsch sangen und predigten, so gebrauchten viele Sufis in ihrer Dichtung nicht das koranische Arabisch - und die Hindumystiker nicht das heilige Sanskrit -, sondern die Sprachen ihrer Heimat: Ahmad Jesewi in Zentralasien im 12., Junus Emre in Anatolien im 14. Jahrhundert sind frühe Beispiele aus dem türkischen Bereich. Ebenso sangen Sufis in allen Provinzen des indischen Subkontinents, von Bengalen bis Sind und zum Pandschab, in ihren Regionalsprachen, um auch die einfachen Menschen in ihnen verständlichen Worten und Bildern zu erreichen. Damit bereicherten sie die Volkssprache und schufen die Grundlage für die spätere Literatur - in ähnlicher Weise wie die mittelalterlichen christlichen Mystiker.Im Lauf dieser Entwicklung drangen reiche volkstümliche Bräuche in den Islam ein. Dazu gehört besonders die Verehrung von Dingen, die »Segensmacht« haben; Reste von altem Steinkult sind weitverbreitet, ebenso die Verehrung heiliger Bäume und Gewässer; zahlreiche Mausoleen oder Erinnerungsstätten wurden daher nahe Bäumen oder Teichen und Bächen angesiedelt. Die Segenskraft eines Gottesfreundes, so glaubt man, wird nach seinem Tod noch größer; daher gibt es vielfach den Volksbrauch, zu Heiligengräbern zu pilgern und dort Segen zu suchen. Man betet etwa um einen Sohn, der, wenn das Gebet erhört wird, oft den Namen des Heiligen erhält, dessen Fürsprache er sein Leben verdankt. An Heiligengräbern legt man Gelübde ab, sei es, wie in der Türkei, ein »Sakarija-Mahl« zu stiften, zu dem man 41 Speisen braucht und bei dem alles schweigend vor sich geht, sei es, eine Wallfahrt zu vollziehen oder die vierzigmalige Rezitation von Sure »Ja Sin« (Sure 36). Um den Heiligen daran zu erinnern, bindet man Stoffstückchen an einen nahen Baum oder ans Fenstergitter seines Mauseoleums. Nach der Wunscherfüllung werden oft Süßigkeiten verteilt. In manchen Bruderschaften dürfen Frauen das Heiligtum nicht betreten; sie blicken von außen auf den Sarkophag. Sonst können sie wie alle Besucher, die Schwelle, das Geländer oder die Sargdecke berühren oder küssen. In Indo-Pakistan mag ein Besucher auch ein Stück oder sogar eine ganze Grabdecke erhalten, die, von einem Frommen bei der Erhörung seines Gebetes gestiftet, wenige Tage auf dem Sarkophag gelegen und sich mit der »Baraka« des Heiligen aufgeladen hat. Auch die auf das Grab geworfenen Blumen oder ihr Staub werden verteilt.Auf vorislamische Zeit geht der Glaube an die Djinnen, unsichtbare Geistwesen, zurück, der bis heute in vielen arabischen Ländern lebendig ist. Diese Djinnen sind allgegenwärtig, sie wohnen in der Natur, aber auch in einzelnen Dingen und gelegentlich sogar dem menschlichen Körper und können gute oder bösartige Absichten verfolgen. Kommt es zu Zusammenstößen mit dem Menschen, verursachen sie verschiedene Krankheiten oder Störungen. Im ägyptischen Volk wird daher der Besessenheitskult Zar gepflegt, der dazu dient, eine durch einen Geist hervorgerufene Krankheit zu erkennen und zu heilen. Außerdem kennt der Volksglaube die Macht des »bösen Blicks«, gegen die man sich - wie auch gegen schädigende Geister - durch kunstvolle Amulette zu schützen sucht.Die offizielle Religion steht solchen Bräuchen ablehnend gegenüber, ist doch nichts davon im Koran oder der Tradition erwähnt. Daher haben während der Pilgerfahrt nach Mekka viele Reformbewegungen ihren Anfang genommen; deren Initiatoren wollten die Ideale des einfachen Islam in ihre Heimatländer zurückbringen, wo der mystische Volksislam vorherrschend war. Es lässt sich schwer vorstellen, wie sich der Islam ohne die Aktivitäten der Sufis so weit ausgebreitet hätte. Die Bruderschaften boten etwas für jeden; schweigende Meditation oder Musik, praktische Arbeit oder ein Leben als Wanderderwisch, Wunderheilungen oder Strenge, verinnerlichte Regulierung des täglichen Lebens; im Mittelpunkt steht dabei immer die Ehrfurcht vor dem einen und einzigen Gott Allah und die Liebe zu ihm, der transzendent ist, den Menschen weit übersteigt, und ihm zugleich immanent ist, ihm innewohnt, sowie Liebe zu seinem letzten Gesandten, Mohammed, dem »Siegel der Propheten«, der in den Augen der Sufis den »Vollkommenen Menschen« verkörpert.Prof. Dr. Annemarie SchimmelSchimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main u. a. 1995.
Universal-Lexikon. 2012.